Pandemieaufarbeitung: Womit beginnen?

Zentrale Brüche in der Gesundheitsversorgung

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30.6.2023

Die Forderung nach einer Aufarbeitung der Corona-Pandemie und die Einrichtung einer Enquete-Kommission ist aktueller denn je. Um den Einstieg in diesen Aufarbeitungsprozess zu erleichtern, wird in diesem 2. Offenen Brief eine Priorisierung und Strukturierung der in Frage stehenden Themen vorgenommen. Im Vordergrund stehen (1) die Infragestellung des Grundgedankens der Evidenz, (2) die Schwächung des Prinzips der Patientenorientierung und (3) die neuerdings bevorzugte Top-Down-Steuerung ohne Einbeziehung der Partner im Gesundheitswesen.

Im Offenen Brief vom 20.4.2023 hat die Initiative Pandemieaufarbeitung ausführlich die Notwendigkeit einer planvollen Aufarbeitung der COVID-19-Pandemie begründet und die Breite der Fragen skizziert, die sich nach dieser einschneidenden Krise auftun. Einen Schwerpunkt bildeten dabei die Prozesse und Strukturen, die einer Überprüfung bedürfen, ohne dass unerwünschte Ergebnisse (z.B. Bildungsrückstand bei Kindern, Vertiefung der sozialen Schichtung) dabei vernachlässigt werden. Wir betonen noch einmal die Stoßrichtung und Wichtigkeit dieses Anliegens. Nur mit einer systematischen Aufarbeitung gelingt – im Sinne einer learning culture – eine Verbesserung der Krisenfestigkeit der Gesellschaft, deren Nutzen in künftigen Krisen erheblich sein wird. Andernfalls erschöpft sich die Verarbeitung der Pandemie in Schuldzuweisungen oder dem Beharren auf Deutungshoheit.

Als Unterzeichnerinnen und Unterzeichnern dieses 2. Offenen Briefs halten wir es für wichtig, interdisziplinäre Expertise aus dem Unterstützerkreis zu nutzen, um den Aufarbeitungsprozess weiter zu unterstützen. Die in entsprechenden Arbeitsgruppen entstehenden Stellungnahmen stellen wir auf https://pandemieaufarbeitung.net/ zur Verfügung und hoffen, hierdurch weiteren Ideenaustausch anzustoßen. Besonders wenden wir uns nun an die Akteure aus dem Gesundheitswesen und der Gesundheitspolitik. Wir wollen konkretere Vorschläge zur Umsetzung des Aufarbeitungsprozesses formulieren und insbesondere eine wichtige ‚Anlaufschwierigkeit‘ überwinden, die in der großen Bandbreite der wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Fragen liegt. Erstens können deswegen nicht alle Themenkomplexe gleichzeitig bearbeitet werden, allein schon wegen einer drohenden Überforderung der zur Verfügung stehenden Kräfte. Zweitens besteht angesichts der Unübersichtlichkeit von sich teilweise überlappenden Gesichtspunkten die Gefahr, dass entscheidende Themen übersehen werden. Wir halten es daher für unumgänglich, einige prioritäre Einstiegsthemen zu identifizieren und darüber hinaus weitere Themenbereiche zu einem späteren Zeitpunkt sinnvoll zu strukturieren.

Ein Vorschlag zur Priorisierung und zum thematischen Einstieg kann selbstverständlich nicht die wissenschaftliche Aufarbeitung einzelner Fragestellungen ersetzen. Diese muss später ausführlich und auf hohem fachlichen Niveau geschehen. Eine spätere Erweiterung und Vertiefung ist also unverzichtbar, aber nicht Gegenstand dieser Stellungnahme.

Die Initiative Pandemieaufbereitung hat sich daher intensiv mit möglichen Priorisierungskriterien beschäftigt. Da eine Aufarbeitung der Pandemie nur unter Einbeziehung der Stakeholder/Interessengruppen im Gesundheitssystem gelingen kann, bietet es sich an, Themen an den Anfang zu stellen, die einerseits in der Vor-Pandemie-Ära große Bedeutung genossen und andererseits während der Pandemie erhebliche ‚Kursänderungen‘ bzw. Brüche erlebt haben.

Ausgehend von diesen Überlegungen haben sich drei äußerst drängende Themen herauskristallisiert, die vor der Pandemie – nach jeweils langer, teils jahrzehntelanger fachlicher, wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Diskussion – breite Akzeptanz im Gesundheitswesen und darüber hinaus gefunden haben:

  1. Die zentrale Rolle wissenschaftlicher Evidenz in der Begründung und Kommunikation individueller und gesellschaftlicher Entscheidungen.
  2. Die große Rolle der Patientenautonomie als Grundstein des Handelns, die Nachteile paternalistischer (bevormundender) Strukturen und Einstellungen kompensieren konnte.
  3. Die Fortentwicklung der korporatistischen Strukturen im Gesundheitswesen im Sinne eines moderierten Governance-Konzeptes, das Beteiligte (Gruppen, Verbände etc.) auf allen Ebenen unter Vorgabe gesetzlicher Rahmenanforderungen einbezieht.

Ebenfalls wichtige, jedoch später zu erörternde Themen, die ebenfalls einen hohen Grad an Diskontinuität zwischen Prä- und Pandemiephase aufweisen, sind nach Ansicht der Gruppe beispielsweise:

– Grundsätze des Risikomanagements (besonders unter dem Aspekt der Krisenbewältigung),

– Grundsätze der Risikokommunikation (Umgang mit Information und vor allem Absicherung von Information, Umgang mit Angst und Panik etc.),

– der Maßstab der Verhältnismäßigkeit als Grundlage normativer Entscheidungen im Krisenmanagement,

– die Rolle der Medien gerade unter dem Aspekt der Kommunikation von Fakten und Ansichten, und

– die Rolle der Wissenschaft selbst in ihrer konstituierenden Unabhängigkeit, vor allem unter dem Blickwinkel der notwendigen Politikberatung.

In diesem 2. Offenen Brief wollen wir für die ersten drei Themen knapp die Prä-Pandemie Situation und den Umgang mit diesen Themen während der Pandemie schildern. Diese Skizzierung stellt, wie vorher ausgeführt, keine wissenschaftliche Ausarbeitung des jeweiligen Themas dar, sondern soll den Grad der Diskontinuität darstellen und damit die Notwendigkeit einer tieferen Auseinandersetzung im Rahmen der Pandemie-Aufarbeitung begründen.

Thema 1: Evidenz als Entscheidungsgrundlage

Die evidenzbasierte Medizin (EbM) ist in den letzten zwei Jahrzehnten hierzulande zum Referenzstandard in der Entscheidungsfindung über Gesundheitsversorgung geworden. Gesundheitspolitisch protegiert und mit rechtlicher Grundlage wurden Institutionen im Gesundheitswesen verankert und gefördert, die nach den Prinzipien der EbM arbeiten – wie das IQWiG1 und Cochrane Deutschland – bzw. nach EbM-Kriterien entscheiden – wie der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA).

Die Aufgaben des IQWiG (Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen) wurden in den letzten Jahren mit entsprechender Rechtsgrundlage im SGB V stetig erweitert. Das IQWiG ist zur Referenz geworden für die Fragen der Nutzenbewertung von medizinischen Verfahren – medikamentös und nicht-medikamentös, therapeutisch, präventiv, rehabilitativ, individuell und bevölkerungsbezogen.

Während der COVID-19-Pandemie wurde diese politisch unabhängige, tragfähige und kompetente Struktur für die Nutzenbewertung1 und Kommunikation mit Bürgerinnen und Bürger zu Fragestellungen der Pandemiekontrolle nicht aktiviert. Das Corona-Expertengremium der Bundesregierung und der Sachverständigenrat zur Evaluation des Infektionsschutzgesetzes mussten demgemäß eigene Recherchen und Evidenzsynthesen durchführen, ohne auf hochwertige Aufbereitungen des besten Kenntnisstandes durch die etablierte und erfahrene Institution IQWiG zurückgreifen zu können. Trotz des wichtigen ad-hoc Engagements beispielsweise der COVID-19 Leitlinien Task Force der AWMF (Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften) mit systematischen Evidenzsynthesen zu ausgewählten Fragen blieb das Pandemiemanagement somit weit hinter seinen Möglichkeiten zurück.

Voraussetzung für eine evidenzbasierte Pandemiebewältigung wäre eine konzertierte Vorgehensweise gewesen. Eine fachlich ausgewogene nationale Taskforce zur Koordination einer sofortigen Bereitstellung bereits vorhandener Evidenz (z.B. zu Masken, Schulschließungen) und zur kontinuierlichen Evidenzgenerierung während der Pandemie mit zielgerichteter ‚Auftragsforschung‘ zu klar definierten und priorisierten Fragestellungen – aus interdisziplinärer, die relevanten Settings betreffender Sicht – wäre dazu ein geeignetes Mittel gewesen. Während Versäumnisse gerade zu Beginn der Pandemie aufgrund der Neuheit des Erregers vielleicht noch verständlich waren, wurde hierzu auch in weiteren Phasen der Pandemie keine tragfähigere Strategie entwickelt. Die Recherche nach Evidenz, Analyse, Bewertung und Kommunikation, inklusive des Offenlegens von Unsicherheiten und der Benennung offener Fragen und Forschungsbedarfs wären beim IQWiG und ggf. anderen etablierten Institutionen angemessen verortet gewesen. Die wissenschaftliche Evidenz als Grundlage zur Nutzenbewertung2 und die Entscheidungsfindung unter Berücksichtigung der Datenlage wären klar voneinander getrennt gewesen; Wissenslücken, die in Aufträge zur Evidenzgenerierung übersetzt und in nationale und international-kooperative Studien hätten münden müssen, wären so systematisch offengelegt worden. Die Bewertung der Evidenz und die Planung von Studien zu präventiven Maßnahmen hätte bei Anwendung der Methode der EbM die systematische Erfassung von Nebeneffekten/Kollateralschäden zwingend vorgesehen. Auch Transparenz und Unabhängigkeit – bisweilen Schwachstellen der Politikberatung – wären angesichts klar offengelegter Abläufe der Evidenzaufarbeitung durch das IQWiG gewährleistet gewesen. Zudem hätte die Kommunikation der Studienergebnisse/der Evidenzlage durch das IQWiG nach anerkannten und wissenschaftlich fundierten Kriterien irreführende Informationen durch Politik und Medien reduzieren können.

Der Sachverständigenrat Gesundheit und Pflege hat in seinem Gutachten 20233 die ‚Blockade‘ klinischer und versorgungsrelevanter Forschung während der SARS-CoV-2-Pandemie einschlägig kritisiert.4 Zu zögerlich, unnötig bürokratisch komplex, wenig flexibel, praxisfremd und nicht international kompetitiv seien die während der Pandemie initiierten Forschungsförderprogramme gewesen. Eine schnelle und effektive Koordination der Forschungsaktivitäten auf nationaler Ebene fehlte. Bestehende Forschungsressourcen wie die Nationale Kohorte (NAKO) hätten für repräsentative Bevölkerungsstudien effektiver genutzt werden müssen.3

Das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderte Netzwerk der Universitätskliniken und die interdisziplinäre Kommission für Pandemieforschung waren dabei nicht hinreichend und folgten der üblichen Fördersystematik in Deutschland.3 Hier könnte eine systematische Analyse der Prozesse und Ergebnisse der beiden Initiativen genauer Auskunft geben, in welchem Ausmaß relevante Fragestellungen des Pandemiemanagements gefördert oder übergangen wurden. Die adäquate Reaktion auf Krisen bedarf zukünftig klarer Koordination und proaktiver Steuerung. Zufällig entstehende und z.T. intransparente Förderstrukturen, zumal ohne ausreichende Ergebnisevaluation, sollten hingegen vermieden werden. Auch die breite Einbeziehung von Fachgesellschaften und anderen Organisationen des Gesundheitswesens ist zur Identifikation krisenrelevanter Forschungsfragen wichtig und sollte weiter gestärkt werden.

Thema 2: Patientenautonomie als handlungsleitendes Prinzip

Patientenautonomie war vor der Pandemie in vielerlei Hinsicht ein Grundstein in der individuellen Patientenbetreuung (z.B. shared decision making). Wie Anfang der Nullerjahre im Leitfaden Patientenrechte in Deutschland des Bundesgesundheitsministeriums und des Bundesjustizministeriums in Zusammenarbeit mit der Bundesärztekammer, der Deutschen Krankenhausgesellschaft, der kassenärztlichen Bundesvereinigung und zahlreichen weiteren Verbänden des Deutschen Gesundheitswesens formuliert war, sind dabei „Behandlung, Pflege, Rehabilitation und Prävention die Würde und Integrität des Patienten zu achten“, sowie „sein Selbstbestimmungsrecht und sein Recht auf Privatheit zu respektieren“.5

Im Gesetz zur „Verbesserung der Rechte von Patientinnen und Patienten“ wurde 2013 weiter ausgeführt: „Behandelnder und Patient sollen zur Durchführung der Behandlung zusammenwirken“. Im Rahmen der gesetzlich vorgeschriebenen, verständlichen Aufklärung sei dabei auch auf „Alternativen zur Maßnahme hinzuweisen, wenn mehrere medizinisch gleichermaßen indizierte und übliche Methoden zu wesentlich unterschiedlichen Belastungen, Risiken oder Heilungschancen führen können.“6 Ziel sei „Patienten sowie Behandelnde auf Augenhöhe“ zu bringen. In der Begründung des Entwurfes wurde betont, dass dem Gesetz insgesamt der „Partnerschaftsgedanke zwischen dem Behandelnden und dem Patienten“ zugrunde liege.“7 Ein weiteres Ziel des Gesetzes war auch „die Stärkung von Risiko- und Fehlervermeidungssystemen“; dazu wurde ausgeführt: „Richtig verstandener Patientenschutz setzt nicht auf rechtliche Bevormundung, sondern orientiert sich am Leitbild des mündigen Patienten.“7

Im Sinne einer weiteren massiven Stärkung autonomer Gesundheitsentscheidungen im Zusammenhang mit medizinischen Eingriffen und Behandlungen erklärte der 2. Senat des Bundesverfassungsgerichtes im Jahr 2020 das Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung für verfassungswidrig, und zwar mit der Begründung, dass das allgemeine Persönlichkeitsrecht auch ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben umfasst. Weiter wurde ausgeführt: “Von der Vorstellung ausgehend, dass der Mensch in Freiheit sich selbst bestimmt und entfaltet, umfasst die Garantie der Menschenwürde insbesondere die Wahrung personaler Individualität, Identität und Integrität. Die unverlierbare Würde des Menschen als Person besteht hiernach darin, dass er stets als selbstverantwortliche Persönlichkeit anerkannt bleibt.”8

Vor der Pandemie geförderte Ansätze zur Stärkung einer sowohl wissenschaftlich als auch ethisch begründeten Vorgehensweise in Gesundheitsfragen unterstützten in diesem Sinne eine partizipative Entscheidungsfindung und wiesen dabei auch auf die Notwendigkeit zu der Erstellung laienverständlicher Informationen in Bezug auf Gesundheitsfragen hin, um einen freien Reflexionsprozess der Patienten bestmöglich zu gewährleisten.9

Während der Pandemie stand eine solch umfassende Information, die auch eine individuell begründete Entscheidung gegen bestimmte medizinische Maßnahmen respektierte, nicht im Vordergrund der Kommunikation. Stattdessen wurde unter den in der Pandemie ergriffenen Maßnahmen die Patientenautonomie sowohl bei individuellen Therapieentscheidungen (Impfung, antivirale Therapie), Entscheidungen zu Präventionsmaßnahmen (Masken, Kontakt zu Familienmitgliedern etc.), auf organisatorischer Ebene (Besuchsverbote) und im politischen Bereich weitgehend außer Kraft gesetzt, was nicht nur gesundheitsfördernde Konsequenzen mit sich brachte.

Gerade im Vorsorgebereich bei älteren Personen war und ist die beruhigende Betreuung durch vertraute Personen und Angehörige ein wichtiger, nichtpharmakologischer Bestandteil der Delirprävention und Behandlung, der auch die Autonomie der Patienten schützen kann.10 11 Während der Pandemie wurden solche Ansätze über Kontaktverbote zur Infektionsprävention zum Teil stark eingeschränkt oder sogar unmöglich gemacht.

Zu den Voraussetzungen autonomer (Gesundheits-)Entscheidungen gehören Handlungsalternativen, die für einzelne Individuen realistisch umsetzbar sind.12 Daher war vor der Pandemie auch auf organisatorischer Ebene eine Einbeziehung der Patientenperspektive bei gesundheitspolitischen Entscheidungen von großer Bedeutung. Dies spiegelte sich auch in der Konfiguration der organisatorischen Umsetzung der Gesundheitsversorgung (Patientenbeauftragte in den Institutionen), auf Verbandsebene (Patientenvertreter im G-BA) und in der Legislative (z.B. bei Anhörungen) wieder. Während der Pandemie fand eine solche Einbeziehung unterschiedlicher Perspektiven nur in geringem Ausmaß statt. Eine solche Herangehensweise mehr zu stärken (siehe auch Thema 3), könnte jedoch, gerade auch bei Entscheidungen unter Unsicherheiten, dazu beitragen, schneller zu erkennen, ob die Umsetzbarkeit bestimmter Vorgaben (wie zum Beispiel zur Kontaktisolation oder zur häuslichen Kinderbetreuung) überhaupt in allen Teile der Gesellschaft gleichermaßen gut möglich ist und ggf. dabei helfen, breitere Lösungsansätze (wie z.B. Nachbarschaftshilfen, Möglichkeiten zu sicheren Treffen im Freien oder Angebote zur Quarantäne in Hotelzimmern für Menschen in beengten Wohnverhältnissen) zu entwickeln. Die Einschränkung von gesundheitlichen Wahl- und Entscheidungsmöglichkeiten ist im Gegensatz zu einer Erweiterung im ethischen Kontext jedoch immer problematisch und sollte einer besonders sorgfältigen Prüfungspflicht unterliegen.12 Auf Bevölkerungsebene bergen die Kollateraleffekte mancher, während der Pandemie eingeführter, restriktiver Maßnahmen wie Schulschließungen, Geschäftsschließungen, Kontaktbeschränkungen und Ausgangssperren (z.B. über Einkommens- und Bildungsverluste oder die Folgen von Bewegungsmangel und psychischen Erkrankungen), die Gefahr, zu einer nicht nur kurz- sondern auch langfristigen Einschränkung autonomer Handlungsspielräume für gesundes Verhalten beizutragen. Ressourcenorientierte Ansätze könnten hier im Gegensatz zu einer restriktiven Vorgehensweise möglicherweise auch helfen, Vertrauen in und damit auch die Compliance mit medizinischen Handlungsempfehlungen zu stärken.

Wir empfehlen daher, die Förderung des Zugangs zu Ressourcen (wie die Einbeziehung von Angehörigen in die Behandlung und Therapie, strukturelle und materielle Angebote und Hilfen, Zugang zu Bildung und einer umfassenden medizinischen Aufklärung), die individuelle Handlungsspielräume erweitern können, wieder stärker in den Blick zu nehmen. Gleichzeitig sollten während der Pandemie etablierte, restriktive Maßnahmen, die die individuelle Autonomie und Entscheidungsfreiheit einschränken, kritisch auf ihre ethische Grundlage sowie ihren tatsächlichen praktischen Nutzen und ihre Nebenwirkungen hin überprüft werden.

Zwar sind partizipative Entscheidungsfindung und eine hohe Gewichtung der Autonomie in Gesundheitsfragen während einer Pandemie zweifellos herausfordernder als in der präpandemischen Phase. Deutlicher als sonst treten in Pandemiezeiten Wert- und Zielkonflikte (z.B. Besuchsrecht gegen Infektionsschutz) zutage, die Einschränkungen individueller Autonomie im Einzelfall rechtfertigen können. Gerade um die Ursachen möglicher Brüche im Umgang mit dem Thema Patientenautonomie während der Pandemie besser einordnen zu können, bleibt aber eine kritische Reflexion hierüber wichtig. Erstens besteht ansonsten die Gefahr einer stillschweigenden Verfestigung der verschobenen Verhältnisse. Zweitens bleibt eine Verschiebung hin zum vermeintlichen Kollektivinteresse auch während der Pandemie problematisch, wenn z.T. entscheidende Evidenz fehlt (vgl. Thema 1). Drittens kann, wie oben skizziert, Partizipation auch in Krisenzeiten ein Schlüssel zu effektiverer Problemlösung und Vermeidung von Kollateralschäden sein.

Thema 3: Moderne Governance statt Top Down

In den Jahrzehnten vor der Pandemie hat sich das Verständnis der Funktion und des Managements komplexer Organisationen maßgeblich weiterentwickelt. Ausgehend von einem systemtheoretischen Verständnis für die innere Vernetzung, das Problem des verteilten und unvollständigen Wissens, Systemzwängen und andere Faktoren, die solchen Organisationen ein oft unvorhersehbares Eigenleben verleihen, hat man die Grenzen des ‚Durchregierens‘ erkannt13. Noch mehr gilt dies für Gesellschaften als Ganzes. Dementsprechend hat sich ein modernes Führungsverständnis für Politik und komplexe Organisationen entwickelt, das mehr das Anzeigen der Richtung (direction pointing), d.h. das Vorgeben von Rahmenbedingungen und Zielvorstellungen in den Mittelpunkt rückt.

Die Gesundheitsversorgung, deren Komplexität von fast sprichwörtlicher Natur ist, bildet hierbei keine Ausnahme: Regeln sind vorhanden (aber nicht nach außen einsehbar), die Autonomie der einzelnen Player ist stark ausgeprägt, unerwartete ‚emergente‘ Entwicklungen an der Tagesordnung. Dieser Charakter wird verstärkt durch das Auftreten vieler Organisationen im Gesundheitswesen als sog. Expertenorganisationen. Diese ‚professionellen Bürokratien‘ (professional bureaucracies14) sind durch hochgradige Autonomie, primäre Kundenbeziehungen der Leistungsträger und durch eine in langjähriger Ausbildung erworbene, regelbasierte Koordination gekennzeichnet. Von außen sind solche Systeme nur schwer zu durchschauen und schwer zu steuern.

Es war daher ein großer Fortschritt, dass Anfang der 00-er Jahre sowohl auf dem Gebiet der gemeinsamen Normen und Werte (‚Kultur‘ des Systems: Evidenz-Basierung, siehe Thema 1, aber auch z.B. Patientensicherheit) als auch auf dem Gebiet der Organisation und Steuerung neue Wege beschritten wurden. Im Gesundheitsmodernisierungs-Gesetz (GMG 2003/4) wurden die Ausschüsse Ärzte und Krankenkassen und Krankenhaus zum Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) zusammengefasst. Diesem Gremium, mit den Playern paritätisch besetzt, wurden bestimmte Aufgaben zur Ressourcenverteilung und z.B. zu Qualitätsfragen zugewiesen. Flankierend wurde festgelegt, dass die Evidenz der Entscheidungen nicht nur transparent dargelegt werden müsse, sondern dass wissenschaftliche Analysen vor allem zweier Institute (IQWiG und Institut für Qualitätssicherung und Transparenz im Gesundheitswesen, IQTIG) zu berücksichtigen sind. Patientenvertreter wurden zunehmend hinzugezogen (siehe Thema 2). Die Entscheidungsprozesse sind nicht immer einfach (und auch nicht immer rasch) verlaufen, aber das Gesamtkonzept gewährleistete eine klare Arbeitsweise und vor allem Einbindung unterschiedlicher Interessen.

Diese Legitimierung durch Prozesssicherheit wurde allerdings während der Pandemie schlagartig außer Kraft gesetzt und bleibt bis heute beschädigt. Die geordnete Einbeziehung der Institutionen und Verbände des Gesundheitswesens wurde durch ein neu geschaffenes Gremium (Ministerpräsidenten-Konferenz mit Bundeskanzlerin) ersetzt, der Gemeinsame Bundesausschuss wurde mit Nebenthemen wie der telefonischen Krankschreibung beschäftigt, die wissenschaftlichen Institute IQWiG und IQTIG wurden trotz Nachfragen völlig übergangen, und die Ständige Impfkommission unter ihrem Vorsitzenden Thomas Mertens unter erheblichen politischen Druck gesetzt.

Die Entscheidungen, die in dieser linearen Top-Down-Struktur getroffen wurden, betrafen gesellschaftlich höchst relevante Fragestellungen. So wurde beispielsweise im Mai 2020 in der MPK ein Grenzwert von „50/100.000 Einwohner“ für Landkreise festgelegt (bei Überschreiten regionaler Lockdown), ohne dass man irgendeinen adäquaten, also fachlich ausgewiesenen Rat eingeholt hätte, um diesen willkürlichen Wert von der jeweiligen Testaktivität abzugrenzen. Zahlreiche inhaltlich kompetente Fachgesellschaften wurden übergangen. Ein von der Deutschen Krankenhaus-Gesellschaft geschaffener Score zum regionalen Risiko wurde nicht beachtet, ebenso wenig wie die Initiative der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, Corona als in fast allen Fällen ambulant zu versorgende Infektion zu betrachten und in erster Linie hier (z.B. Indikation zur stationären Einweisung) mit Maßnahmen anzusetzen. Dass Gottesdienste untersagt wurden, Baumärkte aber geöffnet blieben, hat bei zahlreichen Staats- und Verfassungsrechtlern Bedauern und Widerspruch ausgelöst.

Um diesen Missstand und diese Missachtung moderner Konzepte zur gesellschaftlichen Kommunikation und Steuerung (z.B. Übergehen von Stellungnahmen relevanter Player, unrealistisch kurze Stellungnahmefristen oder Konsultation erst nach getroffenen Entscheidungen) nicht zu perpetuieren, erscheint eine Aufarbeitung der Pandemie von größter Wichtigkeit. Ebenso wie beim Thema Patientenautonomie ist auch hier zu fragen, inwiefern ein kooperativeres Führungsverständnis die verfügbaren Kompetenzen und Ressourcen im Gesundheitswesen auch in Krisenzeiten bessere Ergebnisse liefern kann.

Schlussbemerkung

Während der Pandemie haben sich nicht nur Prioritäten und Prozesse in der Gesundheitsversorgung verschoben, sondern es wurden grundlegende Entwicklungen abgebrochen und Fortschritte rückgängig gemacht, die sich in den vorangehenden Jahrzehnten zur Grundlage unseres Gesundheitswesens entwickelt hatten. Besonders gilt dies für die Themenbereiche Evidenz, Patientenautonomie und moderne Governance-Strukturen. Zu diesen Punkten hat die Initiative Pandemieaufarbeitung in diesem 2. Offenen Brief daher kurz Stellung genommen. Um zu vermeiden, dass sich diese Veränderungen im Sinne einer Unterbietung der Situation vor Pandemie stabilisieren, sollte es im Interesse aller Stakeholder im Gesundheitswesen sein, sich mit den beschriebenen Brüchen kritisch auseinanderzusetzen. Eine Aufarbeitung der Entwicklungen der letzten drei Jahre kann hier glaubwürdig ihren Anfang nehmen. Unabhängig davon, wie sich der politische und wissenschaftliche Prozess der Pandemieaufarbeitung ansonsten weiter gestaltet, erscheint dieser Dialog von höchster Dringlichkeit.


Prof. Gerd Antes (Medizinstatistik)

Dr. Pascal Berger (Soziologie)

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Prof. Volker Boehme-Neßler (Rechtswissenschaften)

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Dipl.-Psych. Ulrike Hauffe (Mitglied im G-BA – Versichertenvertreterin, stellv. Verwaltungsratsvorsitzende der BARMER)

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Referenzen

1 IQWiG Methoden. https://www.iqwig.de/methoden/allgemeine-methoden_entwurf-fuer-version-7.pdf

2 Nutzen ergibt sich aus Wirksamkeit/Effektstärke, erwünschten und unerwünschten Nebeneffekten/Kollateralschäden, Aufwand und Kosten, Akzeptanz, Umsetzbarkeit im jeweiligen Gesundheitssystem.

3 Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen (Hrsg.) Resilienz im Gesundheitswesen. Wege zur Bewältigung künftiger Krisen. Gutachten 2023 (https://www.svr-gesundheit.de/fileadmin/Gutachten/Gutachten_2023/Gesamtgutachten_ePDF_Final.pdf).

4 Beispielsweise bleiben bis heute offene Fragen zu den Todesursachen der Pflegeheimbewohnerinnen und Pflegeheimbewohnern (ursächlicher Anteil der SARS-CoV-2 Infektion versus Folgen von Neglect durch die Pandemiemaßnahmen).

5 BMG-G-G407-Patientenrechte-Deutschland – „Leitfaden für Patienten und Ärzte“, hrsg. von BMG und BMJ, href=“https://psychiatrie-verlag.de/wp-content/uploads/2019/07/BMG-G-G407-Patientenrechte-Deutschland.pdf“>https://psychiatrie-verlag.de/wp-content/uploads/2019/07/BMG-G-G407-Patientenrechte-Deutschland.pdf, heruntergeladen am 03.06.2023

6 Bundesministerium der Justiz, Gesetz zur Verbesserung der Rechte von Patientinnen und Patienten, https://www.bgbl.de/xaver/bgbl/start.xav?start=//*%5B@attr_id=%27bgbl113s0277.pdf%27%5D#__bgbl__%2F%2F*%5B%40attr_id%3D%27bgbl113s0277.pdf%27%5D__1685980922526 , heruntergeladen am 05.06 2023

7 Begründung des Gesetzentwurfes der Bundesregierung, BT-Drucks 17/10488 vom 15.08.2012, https://dserver.bundestag.de/btd/17/104/1710488.pdf, heruntergeladen am 07.06.2023

8 Bundesverfassungsgereicht, Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung verfassungswidrig, Pressemitteilung Nr. 12/2020 vom 26. Februar 2020, href=“https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2020/bvg20-012.html“>https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2020/bvg20-012.html

9 M. Nothacker, R. Kreienberg, I. B. Kopp, Gemeinsam Klug Entscheiden“ – eine Initiative der AWMF und ihrer Fachgesellschaften: Mission, Methodik und Anwendung. Zeitschrift für Evidenz, Fortbildung und Qualität im Gesundheitswesen 129, 3-11 (2017).

10 AWMF (2019) S2k-Leitlinie „Notfallpsychiatrie“.

11 ICE Clinical Guidelines (2023) “Delirium: prevention, diagnosis and management in hospital and long-term care.” ed .

12 F. J. Zimmerman, Public Health Autonomy: A Critical Reappraisal. Hastings Center Report 47, 38-45 (2017).

13 Mayntz, R.: Governance im modernen Staat. In: Benz A, Dose N (Hrsg.): Governance – Regieren in komplexen Regelsystemen, 2. Aufl., Wiesbaden 2010, S. 37-48

14 Mintzberg, H.: The Professional Bureaucracy, in: Mintzberg, H.: The Structuring of Organisations. Prentice-Hall, Upper Saddle River, NJ 07458, p. 348-79

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